REDAKTIONELLE LEITSÄTZE
- Jede anerkannte Berufsausbildung eröffnet eine Ermessensprüfung, ob der Kostenbeitrag nach § 94 Abs. 6 SGB VIII reduziert oder möglicherweise sogar vollständig von einer Kostenerhebung abgesehen werden kann.
- Für den Kostenbeitrag ist das durchschnittliche Monatseinkommen des vorangegangenen Kalenderjahres maßgeblich.
VG Darmstadt, Urteil vom 18.12.2020, Az. 2 K 43/20.DA
TENOR
Soweit die Beteiligten das Verfahren für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird der Bescheid der Beklagten vom 17.09.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 09.12.2019 aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, falls nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
TATBESTAND
Der inzwischen volljährige Kläger begehrt die Aufhebung eines Heranziehungsbescheides.
Der am 03.02.2002 geborene Kläger lebt seit seinem dritten Lebensmonat in Vollzeitpflege bei Pflegeeltern. Am 01.08.2019 hat der Kläger eine Ausbildung als Koch begonnen und erhält eine Ausbildungsvergütung in Höhe von 487,27 Euro monatlich. Vorher hatte er als Schüler kein Einkommen.
Mit Heranziehungsbescheid vom 17.09.2019 forderte die Beklagte ihn auf, nach §§ 93, 94 SGB VIII ab 01.08.2019 einen Kostenbeitrag in Höhe von 365,45 Euro (= 75% seiner Ausbildungsvergütung) zu leisten.
Mit Schreiben vom 23.09.2019 legten die Pflegeeltern des Klägers als gesetzliche Vertreter Widerspruch ein mit der Begründung, dass die Tätigkeit den Zielen der Jugendhilfeleistung dient und daher von einer Heranziehung nach § 94 Abs. 6 Satz 2 SGB VIII abzusehen sei.
Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 09.12.2019 zurückgewiesen. Die Ausnahmetatbestände des § 94 SGB VIII lägen nicht vor, weil die Tätigkeit dem Erlernen eines Berufes diene und nicht den Charakter eines Ehrenamtes oder einer sozialen oder kulturellen Beschäftigung habe.
Die gesetzlichen Vertreter haben für den Kläger am 09.01.2020 Klage erhoben und darauf hingewiesen, dass die Beklagte fehlerhaft allein auf Satz 1 der Vorschrift abgestellt habe. Sie hätte aber nach Satz 2 der Vorschrift ein Ermessen ausüben müssen. Die qualifizierte dreijährige Ausbildung diene nicht vorrangig der aktuellen Einkommenserzielung, sondern der Ermöglichung eines selbständigen Lebens und dem Erlernen der Fähigkeiten und Kompetenzen dazu. Immerhin entfalle ein Drittel der Ausbildungszeit dem Berufsschulbesuch. Die Beklagte habe ihr Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt.
Der Kläger beantragte ursprünglich,
den Bescheid der Beklagten vom 17.09.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 09.12.2019 aufzuheben.
Die Beklagte hat im laufenden Verfahren mit Schriftsatz vom 01.04.2020 den Heranziehungsbescheid vom 17.09.2019 aufgrund der herrschenden Meinung in der Gesetzgebung und der Entwicklung des Gesetzgebungsverfahrens für den Zeitraum vom 01.08.2019 bis 31.12.2019 aufgehoben sowie mit Schriftsatz vom 27.05.2020 den Heranziehungsbescheid vom 17.09.2019 für den Zeitraum vom 01.01.2020 bis zur Volljährigkeit insoweit aufgehoben, als er den Betrag von 162,77 Euro übersteigt.
Der Kläger hat mit Schreiben vom 27.05.2020 und 29.06.2020 das Verfahren für erledigt erklärt und beantragt nunmehr sinngemäß
den Bescheid der Beklagten vom 17.09.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.12.2019 sowie der Änderungen durch die Beklagte aufzuheben, soweit noch ein Betrag von 162,77 Euro streitig ist.
Die Beklagte hat sich den Erledigungserklärungen mit Schriftsätzen vom 12.06.2020 und 27.07.2020 angeschlossen und insoweit Kostenübernahme erklärt.
Die Beklagte beantragt im Übrigen,
die Klage abzuweisen.
Sie führt zur Begründung aus, dass die Berufsausbildung des Klägers im Rahmen von § 94 Abs. 6 SGB VIII nicht zu berücksichtigen sei, da der Gesetzgeber eine Reduzierung bzw. das vollständige Absehen von einer Erhebung des Kostenbeitrages an Tätigkeiten geknüpft habe, bei denen der junge Mensch Eigenverantwortung übernimmt, soziale Kompetenzen erwirbt oder die zu seiner Verselbständigung beitragen. Beispielhaft seien in der Gesetzesbegründung ehrenamtliches Engagement oder im Einzelfall die Tätigkeit als Zeitungsbote zur Finanzierung des Führerscheins genannt, nicht aber die Berufsausbildung.
Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet und ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch die Berichterstatterin anstelle der Kammer erklärt. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen, die zum Gegenstand der Entscheidungsfindung gemacht worden sind
GRÜNDE
Im Einverständnis der Beteiligten konnte die Berichterstatterin anstelle der Kammer ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§§ 87a Abs. 2 und 3, 101 Abs. 2 VWGO).
Soweit die Klage für erledigt erklärt worden ist, wird das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 3 VWGO eingestellt.
Im Übrigen ist die Klage zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 17.09.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.12.2019 sowie der Änderungen durch die Beklagte vom 01.04.2020 und 27.05.2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VWGO).
Rechtsgrundlage für die Heranziehung des Klägers zu einem Kostenbeitrag sind die §§ 93, 94 Abs. 6 SGB VIII. Unstreitig ist vorliegend inzwischen, dass nach § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII auch bei jungen Menschen das durchschnittliche Monatseinkommen des vorangegangenen Kalenderjahres maßgeblich ist. Nach § 94 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII hat der junge Mensch bei vollstationären Leistungen 75 % seines Einkommens als Kostenbeitrag zu leisten. Satz 2 bestimmt, dass ein geringerer Kostenbeitrag erhoben oder gänzlich von der Erhebung des Kostenbeitrags abgesehen werden kann, wenn das Einkommen aus einer Tätigkeit stammt, die dem Zweck der Leistung dient. Dies gilt nach Satz 3 insbesondere, wenn es sich um eine Tätigkeit im sozialen oder kulturellen Bereich handelt, bei der nicht die Erwerbstätigkeit, sondern das soziale oder kulturelle Engagement im Vordergrund stehen.
Die Beklagte hat vorliegend von dem ihr nach § 94 Abs. 6 Satz 2 SGB VIII eingeräumten Ermessen zu Unrecht keinen Gebrauch gemacht, weil entgegen der von ihr vertretenen Auffassung die Voraussetzungen für eine Ermessensausübung gegeben waren. Nach der Vorschrift liegt es im Ermessen der Behörde von einer Erhebung ganz oder teilweise abzusehen, wenn das Einkommen aus einer Tätigkeit stammt, die dem Zweck der Leistung dient. Zweck der Hilfe für junge Volljährige ist in erster Linie die Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung und die Förderung einer selbständigen und eigenverantwortlichen Lebensführung (s. Pressemitteilung des BVerwG zum Urteil vom 11.12.2020 – 5C 9.19). Diesem Zweck dienen Tätigkeiten, bei denen der junge Mensch Eigeninitiative ergreift und sich verantwortungsbewusst gegenüber seinem Leben und seiner Zukunft zeigt (BT-Drs. 17/13023, zu Nr. 8 Buchstabe b, S. 15). Satz 3 führt dazu aus, dass eine Herabsetzung vor allem in den Tätigkeitsbereichen in Betracht kommen kann, in denen das soziale oder kulturelle Engagement im Vordergrund steht. Entgegen der Auffassung der Beklagten zeigt aber gerade die Verwendung der Formulierung „insbesondere”, dass auch außerhalb der Tätigkeiten im sozialen oder kulturellen Bereich ein Einkommen aus einer Tätigkeit erzielt werden kann, die dem Zweck der Leistung dient. Gerade das von der Beklagten erwähnte Beispiel des Zeitungsboten, der mit dem Geld seinen Führerschein verdienen will, zeigt, dass auch andere Tätigkeiten zumindest grundsätzlich dazu führen können, dass eine Reduzierung des Heranziehungsbetrages in Betracht kommt. Vorliegend übt der Kläger zwar keine Tätigkeit in einem sozialen Beruf aus, aber auch eine Berufsausbildung dient der Verselbständigung des jungen Menschen. Der junge Mensch zeigt damit die Übernahme von Verantwortung für seine Zukunft, weil eine Ausbildung die für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit notwendigen beruflichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln und den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrungen ermöglichen soll (§ 1 Abs. 3 Berufsbildungsgesetz; Benner, Heranziehung junger Menschen zu den Kosten vollstationärer Jugendhilfeleistungen aus ihrem Einkommen, NZFam 2020, 414, 416; DIJUF-Rechtsgutachten vom 17.12.2019 SN 2019_1153 KR, JAmt 2020, 92 ff., 93) und damit den Einstieg in eine berufliche Tätigkeit vorbereitet. Jede anerkannte Berufsausbildung eröffnet demnach eine Ermessensprüfung, ob der Kostenbeitrag reduziert oder möglicherweise sogar vollständig von einer Kostenerhebung abgesehen werden kann.
Da die Beklagte das ihr eröffnete Ermessen vorliegend nicht ausgeübt hat, ist der Bescheid vom 17.09.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.12.2019 aufzuheben, soweit er sich nicht bereits erledigt hatte.
Hinsichtlich des erledigten Teils der Klage hat die Beklagte nach billigem Ermessen die Kosten zu tragen (§ 161 Abs. 2 VwGO), da sie durch Abänderung des streitgegenständlichen Bescheides einer stattgebenden Entscheidung zuvorgekommen ist und insoweit auch Kostenübernahme erklärt hat. Die Kosten des Verfahrens im Übrigen hat die Beklagte als Unterlegene zu tragen (§ 154 Abs. 1 VwGO).
Die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten richtet sich nach § 167 VWGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.